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Gesundheit Körperhaltung

Wer viel sitzt, riskiert den frühen Herztod

Behandlung von Rückenschmerzen bei Kindern Behandlung von Rückenschmerzen bei Kindern
Sitzen, immer nur sitzen. Das ist gar nicht gut - und kann fatale Folgen haben
Quelle: picture-alliance/ ZB/dpa-Zentralbild
Langes Verharren auf Stuhl und Sessel schadet: Der Blutzucker steigt, gutes HDL-Cholesterin sinkt. Vielsitzer riskieren einen frühen Herztod.

Die kanadischen Forscher hatten erwartet, dass man zehnjährige Kinder kaum für längere Zeit auf einem Stuhl halten könnte. Doch mit Hilfe von Fernsehen und Videospielen war das kein Problem.

"Die Kinder waren sehr diszipliniert", berichtet Studienleiter Mark Tremblay, der an der Universität Montreal den Pädiatrie-Lehrstuhl leitet.

Die Blutwerte seiner Probanden waren dafür umso undisziplinierter – Tremblay hatte den Versuch ersonnen, um diesen Zusammenhang von Sitzen und Stoffwechselveränderungen zu erfassen.

Die Zuckerwerte gingen steil nach oben und die Werte an günstigem HDL-Cholesterin steil nach unten. "Und das bereits nach zwei bis sieben Stunden ununterbrochenem Sitzen", sagt Tremblay.

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Die Veränderungen waren so dramatisch, dass einem Wissenschaftler Zweifel daran kommen können, ob es überhaupt ethisch noch vertretbar ist, Kinder für eine Studie stundenlang auf einem Stuhl festzuhalten.

Grundschulkind sitzt täglich neun Stunden

Andererseits kann er sich damit "trösten", dass er ja von den Kindern nichts einfordert, was sie sonst nicht auch tun würden. Im Gegenteil. Ein deutsches Grundschulkind verharrt durchschnittlich neun Stunden pro Tag in Sitzposition, und mit dem zunehmendem Alter werden es immer mehr.

Ein Erwachsener verbringt hierzulande 11,5 Stunden auf Stühlen, Autositzen oder Sesseln. Wenn nun aber, wie die kanadische Studie zeigte, bereits sieben isolierte Sitzstunden derart rabiate Wirkungen auf die Blutwerte haben, lässt sich leicht ausmalen, wie verheerend dies für die Gesundheit sein muss.

Aktuelle Daten bestätigen diesen Verdacht. In einer 14 Jahre währenden Beobachtungsstudie an 120.000 US-Amerikanern zeigte sich: Männer, die täglich sechs Stunden oder mehr sitzend verbringen, haben eine um 20 Prozent höhere Sterberate als die Bis-zu-Drei-Stunden-Sitzer. Bei den Frauen beträgt der relative Unterschied sogar 40 Prozent.

Wendell Taylor von der University of Texas kommt in einer Übersichtsarbeit zu dem Fazit, dass pro Doppelstunde sitzender Tätigkeit das Risiko für Übergewicht um fünf Prozent ansteigt. Die Anfälligkeit für Herz-Kreislauf-Erkrankungen steigt in ähnlichem Maße.

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Am Pennington Biomedical Research Center in Louisiana erfasste man 13 Jahre lang den Gesundheitszustand und Lebensstil von 17.000 Testpersonen: Die Dauersitzer zeigten dabei ein um 50 Prozent höheres Herztodrisiko als die Wenigsitzer.

Taylors Resümee fällt daher desillusionierend aus: "Sitzen an sich, ob im Auto, vor dem Fernseher oder am Schreibtisch, ist lebensbedrohlich." Aber sein Kollege James Levine von der Mayo-Klinik in Rochester geht sogar noch einen Schritt weiter: "Sitzen ist eine geradezu tödliche Aktivität." Und der Endokrinologe hat seine Gründe dafür.

"Wenn wir den Hauptteil unserer wachen Zeit sitzend verbringen", so Levine, "beeinträchtigt dies auf vielfache Weise unsere Gesundheit". Als erstes wäre da natürlich der geringe Kalorienverbrauch zu nennen, der zudem noch mit einer reduzierten Fettverbrennung einhergeht.

Schon wenige Stunden Sitzen reichen aus, um in den Blutgefäßen die Ausschüttung von Lipoproteinlipase (LPL) einzuschränken. Dieses Enzym ist an der Fettverdauung beteiligt, Mangel führt zu Übergewicht und erhöhten Blutfettwerten. Bei gelegentlichem Sitzen fällt der LDL-Verlust noch nicht sonderlich ins Gewicht. "Doch wer täglich längere Zeit sitzt, reduziert die LPL-Aktivität um bis zu 50 Prozent", so Levine.

Schwer wiegen auch die Folgen des langen Sitzens auf die Muskulatur: Die Bauch-, Bein- und Gesäßmuskeln werden immer schwächer, während sich die Rückenmuskeln vor allem verkürzen. Diese Dysbalance führt zu einer unphysiologischen Belastung des Skelettes, bis es schließlich zu Rücken- und Gelenkschmerzen kommt.

Die sind zwar prinzipiell nicht lebensbedrohend, schränken aber die Lebensqualität ein und erfordern oft den Einsatz von Schmerzmitteln, die bekanntermaßen schwere Nebenwirkungen haben können.

Sogar die Psyche leidet unter dem Dauersitzen. In einer spanischen Studie zeigten diejenigen, die mehr als 42 Stunden pro Woche vor dem Fernseher saßen, ein um 31 Prozent erhöhtes Risiko für psychische Erkrankungen als diejenigen, die weniger als elf Stunden vor der Glotze saßen.

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Was freilich auch am Fernsehprogramm liegen könnte. Oder an ganz anderen Gründen, die wiederum die Ursache dafür sind, warum ein Mensch überhaupt so lange vor dem Fernsehgerät sitzt.

Doch Levine betont, dass Sitzen an sich bereits eine erhebliche Wirkung auf das vegetative Nervensystem hat: Auf der einen Seite steigt die Müdigkeit, auf der anderen Seite verschlechtert sich die Fähigkeit zum Abbau von Stress – und diese Kombination bildet einen guten Nährboden für Ängste und Depressionen.

Bleibt die Frage nach den Ursachen für all die negativen Auswirkungen des Sitzens. Die Antwort: Es ist zu jung für uns. Der Homo sapiens der Steinzeit saß noch – wenn überhaupt – im Fersensitz, in dem er es nur einige Minuten lang aushielt. Außerdem erforderte diese Position immer wieder Gewichtsverlagerungen, die das völlige Versacken von Herz, Kreislauf und Muskeln verhinderten.

Als dann jedoch im Zuge der Zivilisation spezielle Sitzmöbel eingeführt wurden, konnte der Mensch plötzlich extrem lange und extrem passiv sitzen bleiben. Sein Körper und auch seine Psyche waren aber darauf nicht eingestellt, und die Evolution hatte bisher nicht genügend Zeit, um an ihnen nachzubessern. "Wir sind von der Evolution darauf programmiert, uns zu bewegen", erklärt Levine. "Für das lange Sitzen fehlen uns eigentlich die Voraussetzungen".

Nichtsdestoweniger kann der moderne Mensch durchaus etwas unternehmen, um sich dem Diktat des Sitzens zu entziehen. Und das muss, wie Wissenschaftler in jüngerer Zeit immer öfter betonen, kein Sport sein. "Es reicht schon, wenn man das Sitzen immer wieder für kurze Zeit unterbricht", betont Tremblay.

Auch Levine sieht in der "Wieder-Infizierung" des Alltags mit kurzfristigen Bewegungspausen – wohlgemerkt im Sinne von Pausen mit Bewegung – die bessere Antwort auf die Massenträgheit unserer Tage, allein schon deshalb, weil sie in der Summe mehr Auswirkungen auf den Stoffwechsel hat.

In einer australischen Studie an 4700 Probanden zeigten diejenigen, die gar keinen Sport machten, ähnlich günstige Insulin- und Blutfettwerte sowie eine ähnlich schlanke Taille wie ein regelmäßiger Sportler, sofern sie sie sich nur im Alltag genug bewegten.

Gesünder und schlanker als die kompletten Couch-Potatoes waren sie allemal. "Die obersten 25 Prozent der Probanden, die am meisten Sitzunterbrechungen einlegten, hatten im Schnitt einen um 4,1 Zentimeter geringeren Hüftumfang als die 25 Prozent, die sich am wenigsten bewegten", berichtet Studienleiterin Genevieve Healy von der University of Queensland.

Sie rät daher zu mehr Unbequemlichkeit im Alltag. Beispielweise dergestalt, dass man Telefone und häufig benutzte Aktenordner so deponiert, dass man für ihre Benutzung aufstehen muss. Auch Stehkonferenzen und -pulte können helfen – und natürlich der ebenso oft gehörte wie ignorierte Tipp, dass man so oft wie möglich auf Fahrstuhl und Auto verzichten sollte.

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